Der Herzschlag Connemaras: Kastanienrot

Von Pia Recht

John Palfrey stand am Dubliner Flughafen vor der Passkontrolle und brütete finster in sich hinein. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn der Beamte mit dem rasierten Schädel seine Einreise untersagt hätte. Aus welchen Gründen auch immer. John wollte weder nach Dublin noch nach Connemara, dem eigentlichen Ziel seiner Dienstreise. Aber er hatte kein Glück. Er wurde durchgewunken und folgte den Schildern zu seinem Anschlussflug, um dann festzustellen, dass dieser zwei Stunden Verspätung hatte.
Vor einer Woche hatte er bei der monatlichen Sitzung der Projektmanager erfahren, dass und warum sie ihn nach Irland schickten. In das Land, von dem er wenig wusste, außer, dass es nebenan lag und seine Einwohner ständig soffen und sich prügelten.

John Palfrey liebte seinen Bürojob. Er genoss die festen Arbeitszeiten, hatte auf seinem Schreibtisch, der immer ordentlich war, einen Topf mit einer Grünlilie, die er jeden Freitag kurz vor Feierabend goss. Genau genommen war diese Lilie sein einziger Bezugspunkt zur Natur. Er mochte alles, was nach Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit aussah. Akten beschwerten sich nicht. Zahlen und Rechnungen waren entweder falsch oder richtig. In seiner Freizeit versuchte er, sich fit zu halten. Oft blieb es jedoch bei dem Versuch. Er fand, dass er in seinem Jogginganzug verkleidet aussah, nicht wie ein Sportler. Zwar war er schlank und groß, aber immer etwas ungelenk. Lieber saß er vor seinem Laptop. Eines seiner Projekte waren die Letterfrack-Ponys.
»John«, sagte Gordon Ramson, sein Vorgesetzter, nach der allwöchentlichen Besprechung und nahm ihn ein Stück zur Seite, während die Kollegen den Konferenzraum verließen. »auf ein Wort?«
John blieb neben seinem Boss stehen und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Es kam sehr selten vor, dass Gordon ein persönliches Wort mit ihm wechselte, ja dass er ihn überhaupt wahrnahm. John rechnete daher mit dem Schlimmsten und setzte ein verlegenes Lächeln auf, als Gordon ihn zum Tisch hinüberschob.
»Setzen Sie sich, John. Sie betreuen doch die Ponys.«
John winkte ab, so als wolle er ausdrücken, dass es nicht der Rede wert sei.
»Bei der Jahresbeurteilung haben Sie angegeben, dass Sie gerne tieferen Einblick in ihre Projekte hätten. Diese Gelegenheit ergibt sich nun. Sie machen einen Auditbesuch.«
Ein Audit war nicht das, was John in der Jahresbeurteilung gemeint hatte, aber er lächelte und bedankte sich. Was er wollte, war mehr Verantwortung übernehmen zu dürfen. Er war mißverstanden worden, so dass man ihm jetzt einen Besuch vor Ort aufs Auge drückte. Dort würde er die Bücher überprüfen, musste jeden noch so kleinen Fehler finden und einen ausführlichen Bericht schreiben. Das nahm womöglich einen ganzen Tag in Anspruch. Wenn er Pech hatte, sogar länger. In Dublin wartete er auf seinen Anschlussflug nach Knock, war ungeduldig und vertrieb sich die Zeit mit seinem Laptop. Um ihn herum saßen Iren in legerer Kleidung, die in Zeitungen blätterten oder sich unterhielten, Touristen mit bunten Rucksäcken ließen sich lautstark darüber aus, was sie sich alles ansehen würden. John Palfrey hätte sich am liebsten die Daumen in die Ohren gestopft.
Endlich rief eine uniformierte Dame zum Boarding auf, und John war einer der Ersten in der Reihe.
Die Maschine war winzig, stand verloren auf dem Rollfeld zwischen den großen Flugzeugen, und es nahm die zwanzig Passagiere über eine wackelige Gangway auf. Nicht einmal eine Stunde würde der Flug dauern, und dafür hatte er gefühlte zwei Tage am Flughafen gesessen.
 
Das Frühlingswetter in Dublin war noch freundlich gewesen, aber der Kapitän informierte sie darüber, dass das Wetter in Knock nicht so gut wäre. Nichts anderes hatte John erwartet. Er hielt sehr konzentriert seine Augen geschlossen. Er dachte an das bevorstehende Audit. Wie würde sein Besuch ankommen? Mit den Leuten dort zu mailen, war das eine, ihnen persönlich über die Schulter zu schauen etwas ganz anderes.
Die Maschine sackte in ein Luftloch, und der Frau neben ihm entwich ein »Huch!«. John öffnete die Augen und warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu. Zurück nehme ich den Zug, dachte er. Egal, was seine Sekretärin über die Züge in Irland gesagt hatte. Dass er stundenlang neben komischen Leuten sitzen würde, die ihrerseits Hühner auf dem Schoß transportierten.

Der Flieger durchbrach im Sinkflug die graue Wolkendecke, und John konnte einen ersten Blick auf die Landschaft unter sich werfen. Die Hügel waren kahl, ragten aus sattgrünen Ebenen heraus, die ihrerseits in kleine eckige Parzellen unterteilt waren. In diesen wiederum waren kleine Häuser auszumachen, wie hineingewürfelt, verbunden über schmale Straßen.
Der Flughafen von Knock hatte nur eine Start- und Landebahn und ein einzelnes einstöckiges Gebäude.
Zurück würde er den Zug ausprobieren.

In dem Gebäude gab es nicht einmal ein Gepäckband. Ein junger Mann trug ganz gemächlich Koffer und Taschen aus dem Frachtraum auf einen Rollwagen und zog diesen in das Gebäude. Dort ließ er die Koffer über den Boden auf die darauf wartenden Passagiere schlittern. Niemand beschwerte sich darüber. Man griff nach den Koffern und verschwand. Nach wenigen Minuten war John der Letzte in der Halle. Er wartete auf sein vorbestelltes Taxi.
War die Reservierung wegen der Verspätung in Dublin geplatzt? John wählte die Mobilnummer des Taxiunternehmers. Es meldete sich nur die Mailbox.
»Verdammt«, flüsterte er. Er hasste dieses Land jetzt schon. An dem einzigen Kundenschalter, den es gab, saß der junge Gepäckschubser und sah freundlich auf, als John auf ihn zukam und ihn ansprach.
»Ich habe ein Taxi vorbestellt, aber es scheint nicht auf mich gewartet zu haben.«
»Das tut mir leid, Sir.«
»Kann ich bei Ihnen einen Mietwagen bekommen?« Dabei deutete er auf das Logo einer Autovermietung.
»Tut mir leid, wir haben keinen mehr.«
Langsam nahm John seine Brille ab, wischte an den Gläsern herum und setzte sie wieder auf.
»Ist gerade Hochsaison, dass alle vermietet sind?«
»Die sind immer vorbestellt, Sir. Aber wenn Sie ein Taxi gebucht haben, wird es auch kommen. Wo müssen Sie denn hin?«
»Nach Letterfrack. Das Hotel dort wollte mir eins schicken.«
Der junge Mann strahlte ihn an.
»Dann kommt es mit Sicherheit. Rufen Sie einfach in dem Hotel an und fragen Sie noch einmal nach.«
John nahm sein Gepäck, setzte sich auf die abgewetzte Plastikbank am Fenster und wartete erneut, gestrandet im Niemandsland.

Nach dreißig Minuten des untätigen Wartens hielt endlich ein Auto auf dem Parkplatz vor dem Gebäude, ein ziemlich heruntergekommener Volkswagen. Draußen ging inzwischen die Welt unter, es regnete in Strömen, scharfe Windböen schlugen die Tropfen gegen die Scheiben. Durch die Schlieren hindurch sah John eine Person aus dem Wagen steigen und auf den Eingang zulaufen. Sie war ganz in einen großen Regenmantel gehüllt. Die Türen öffneten sich, ließen einen feinen Sprühregen herein, und die Gestalt in dem Regenmantel rief mit heller Stimme: »John Palfrey?«
John erhob sich, nahm sein Gepäck und nickte dem Fahrer entgegen. »Auf geht’s!«, rief der Fahrer munter. »Wir sind spät dran.«
»Was Sie nicht sagen.«
Im Fußraum dieses Möchtegern-Taxis lagen ein Taschenbuch und eine zerfledderte Irish Times, auf der Konsole entdeckte John leere Kaffeebecher. Der Fahrer hatte noch immer die Kapuze der Regenjacke tief im Gesicht. Er startete den Motor und ließ den Wagen losrollen.
»Haben Sie eine Lizenz für den Personentransport?«, wollte John wissen.
»Machen Sie Witze?« Der Fahrer schlug die Kapuze zurück. »Wer braucht hier schon eine Lizenz?«
Unter der Kapuze kam das runde und äußerst attraktive Gesicht einer Frau Anfang dreißig zum Vorschein. Sie lächelte ihn mit blitzenden, braunen Augen an und warf ihr lockiges, kastanienfarbenes Haar in den Nacken.
»Bei dem Wetter sehe ich immer aus wie ein Pudel.«
Mit beiden Händen fuhr sie sich durch das Haar, während der Wagen weiterfuhr.
»Ich bin Siobhan Keating. Nett, Sie kennenzulernen.«
»Gleichfalls«, sagte John, dessen Ton schon deutlich freundlicher war, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Dann wollen wir mal los.«
Schon nach den ersten hundert Metern tastete John Palfrey hastig nach dem Sicherheitsgurt und schnallte sich an. Siobhan fuhr, als sei der Teufel hinter ihr her.
Die Straße war einspurig und lediglich geteert. Flankiert wurde sie von beiden Seiten von hohen Dornengebüschen und Hecken, die nur ab und zu durch kleine Lücken einen Blick auf die Landschaft erlaubten. Zwischendurch ließ der Regen etwas nach. Die Scheibenwischer quietschten über das Glas, und John betete, es möge ihnen kein Wagen entgegenkommen. Siobhan aß ganz gelassen Cashewkerne aus einer Tüte, die sie sich zwischen die Oberschenkel geklemmt hatte und flötete gut gelaunt irgendeine Melodie vor sich hin. »Shuwaan?«, sagte John etwas nervös, denn er versuchte, ihren Namen so korrekt wie möglich auszusprechen.
»Ich habe es nicht eilig.«
Seine Hände verkrampften sich an den Seiten des Sitzpolsters und er hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
»Ich auch nicht«, rief sie. »Da vorne beginnt das Torfmoor, sehen Sie?«
Unbeeindruckt setzte sie ihre wilde Fahrt fort, Cashewkerne kauend und mit sich und ihrer Welt im Einklang. Der Regen hörte endlich auf, und die Sonne brach zaghaft durch die Wolken. Ihr Licht zauberte leuchtend grüne Flecken auf die Weiden, die sich bis zu den fernen Hügeln am Horizont hinzogen. Nur wenige Zäune aus Holz begrenzten die Weiden. In dieser Gegend Irlands wurden noch immer Trockenmauern aus losen Steinen errichtet. Diese wurden so geschickt aufgeschichtet, dass sie Jahrzehnte überstanden. John starrte aus dem Fenster, ein wenig verwundert darüber, wie sich diese Gegend mit ein wenig Licht positiv veränderte. Sie bogen auf eine zweispurige Straße ab. Straßenschilder, beschriftet sowohl in Englisch als auch in Gälisch, flogen an ihnen vorbei.
»Ich arbeite auf der Farm meiner Eltern«, sagte Siobhan. »Ich biete Reiterferien an und hole für gewöhnlich die Gäste vom Flughafen ab, wenn sie ohne eigenes Auto kommen.«
John lächelte höflich und war insgeheim dankbar, dass er nicht mit Reit-Touristen im Flieger gewesen war, die sich womöglich die ganze Zeit über Gäule unterhielten.
 »Haben Sie mal über einen geführten Wanderritt nachgedacht, John?«
»Ich hab es nicht wirklich mit Pferden«, erwiderte er und brachte Siobhan damit zum Lachen. Ihr Lachen war von einer ansteckenden und übersprudelnden Art, von einer tiefen, erquickenden Lebendigkeit.
»Sie sind doch wegen der Ponys hier«, sagte sie. »Deccy hat mir erzählt, dass Sie heute kommen.«
»Wer ist Dicky?«
»Deccy. Declan Callahan. Ihr Mann vor Ort.«

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