CHASE - Jagd auf die stumme Dichterin

Von Thomas Dellenbusch

Kapitel 1

Enrique Allmers war auf dem Weg ins La Vela, als ihn die junge Frau über den Haufen rannte. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie war durch den Torbogen gekommen, der den Fischmarkt mit der Buttstraße verband, gerade als Enrique daran vorbei schlenderte und ihren Laufweg kreuzte. Sie prallte ungebremst gegen ihn, riss ihn um und purzelte ihrerseits über den fallenden Männerkörper, der so plötzlich und unverhofft vor ihr aufgetaucht war. Als sich beide wieder aufrappelten, bemerkte Enrique, warum er den Laufschritt der Frau nicht hatte hören können. Sie trug keine Schuhe!
Sie war barfuß.

In Sekundenbruchteilen scante er das Wichtigste, wie er es gewohnt war. Anfang bis Mitte zwanzig. Schulterlanges dunkles Haar. Knielanges dunkles Kleidchen.
Unverletzt, abgehetzter, angsterfüllter Blick.
Aber bevor er etwas sagen konnte, hörte er diesmal Laufschritte, die sich ebenfalls aus der Buttstraße näherten und immer lauter wurden. Er hörte, dass es vier Füße waren, die in festem Schuhwerk über das Pflaster hetzten.
Die junge Frau in dem Kleidchen schaute zunächst noch einmal kurz in jene Richtung, in der sie unterwegs gewesen war, schlug sich aber offensichtlich jeden Gedanken an eine Fortsetzung ihrer Flucht aus dem Kopf. Stattdessen ergriff sie Enriques Arm und zog seinen Körper schützend vor sich.
Dann waren die Männer auch schon da.

Enrique Allmers kannte diese Typen. Groß, breitschultrig, kurz geschorene Haare, fetter runder Kopf. Teure schwarze Anzüge, schwarze Westen, schwarzer Schlips. Funk- oder Telefonstöpsel im Ohr. Die Halfter der Waffen unter den Jacketts waren zwar erstaunlich schmal, aber sie entgingen ihm nicht. Dafür war sein Blick zu geschult. Außerdem überraschte es ihn keineswegs, dass die beiden Männer nicht außer Atem waren. Sehr gute Kondition.
Enrique spürte, wie die schmalen Hände zitterten, die sich an ihn klammerten.
»Mach, dass Du verschwindest«, forderte der rechte der beiden Verfolger ihn rüde auf.
»Was ist los?«, flüsterte Enrique der Frau zu, die hinter seinem Rücken in Deckung blieb, aber er bekam keine Antwort. Stattdessen meldete sich der zweite Mann zu Wort:
»Hörst Du schlecht? Verschwinde!«
Mit einem schnellen und geübten Griff seiner linken Hand löste er behutsam die Finger der Frau, die sich bis dahin immer noch an seinen Oberarm geklammert hatten. Dann ließ er sie zurück und machte einen Schritt auf die Männer zu.
»Wenn Ihr Euch in meine Lage versetzt, werdet Ihr verstehen, dass ich jetzt unmöglich gehen kann«, sagte er in einem ruhigen und gelassenen Ton.

Die beiden Spürhunde sahen sich zunächst verwundert an, dann kamen sie auf ihn zu. Langsam vergrößerte sich dabei der Abstand zwischen ihnen, um Enrique zwei unabhängige Fronten anzubieten. Er jedoch registrierte beruhigt, dass keiner von ihnen Anstalten machte, die Waffe aus dem Schulterhalfter zu ziehen. Sie waren wohl davon überzeugt, ihn einschüchtern oder notfalls mit einem Rempler oder auch einem Schlag aus dem Weg räumen zu können.
Aber da sollten sie sich täuschen.
Als sie nah genug heran gekommen waren, sprang er aus dem Stand durch eben jene Lücke, die die beiden absichtlich zwischen sich hatten entstehen lassen. Sie aber taten genau das, was er einkalkuliert hatte. Sie drehten sich zu ihm um.
Diesen Moment nutzte Enrique Allmers aus. Er traf den rechten der beiden mit einem kräftigen Schwinger an der Schläfe, so dass dieser drohte, wie ein nasser Sack auf das Pflaster zu fallen. Aber Enrique ergriff ihn sofort unter den Armen und hielt ihn in einer aufrechten Position, so dass der Mann ihm als Schutzschild diente.
Er griff schnell mit seinen Fingern unter das Jackett des Bewusstlosen, zog dessen Waffe aus dem Halfter und richtete sie unter den Armen seines Opfers hindurch auf dessen Partner. Die ganze Aktion hatte keine drei Sekunden in Anspruch genommen, so dass dieser nicht schnell genug hatte reagieren können. Der Mann stand da, hob langsam seine Arme und sagte:
»Mach keinen Scheiß! Du weißt nicht, mit wem Du Dich hier anlegst.«

Enrique Allmers deutete mit dem Lauf seiner Waffe auf die Waffe, die sich unter dem Jackett seines Gegenübers abzeichnete. Der Mann zog diese vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger heraus, legte sie auf das Pflaster und gab ihr mit dem Fuß einen Stoß, so dass sie zu Enrique hinüber schlitterte.
In diesem Moment spürte er, wie in den Körper, den er hielt, die Spannung zurückkehrte. Er stieß den Aufwachenden von sich, bückte sich, ergriff die zweite Waffe und richtete beide auf seine Gegner. Der eine der beiden hob seinen noch benommenen Partner auf, stützte ihn, und dann verschwanden beide in jene Gasse, aus der sie gekommen waren.
Enrique sah sich um. Überall hatten sich Passanten hinter Autos, hinter dem großen Brunnen oder in Hauseingänge verzogen und beobachteten das Geschehen. Die junge Frau in dem dunklen Kleid sah ihn mit aufgerissenen Augen an und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er steckte sich die beiden Pistolen in den Hosenbund, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich fort.
»Kommen Sie!«, raunte er ihr zu und rannte los.

Er lief mit ihr bis zu seinem geparkten Pajero, öffnete die Beifahrertüre, half der Frau hinein, setzte sich hinters Steuer und fuhr los.
»Also?«, sprach er die Frau neben sich an, während er durch Altona in Richtung St. Pauli fuhr. »Wer waren die Typen?«
Die junge Frau saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. Sie antwortete ihm nicht.
»Ich bin Rique«, versuchte er es erneut, »also eigentlich Enrique, meine Mutter ist Spanierin, aber mir gefällt das kurze Rique besser. Wer sind Sie?«
Die Frau schluchzte immerfort, hielt ihre Hände vors Gesicht und wischte sich Tränen und Nasenschleim weg. Aber sie reagierte nicht auf seine Fragen.
»Hey!« Rique stupste sie an. Erschrocken fuhr sie zusammen, schaute ihn mit großen Augen an und drückte sich, so weit es ging, von ihm fort an die Beifahrertür.
»Um Himmels willen, Mädchen! Entspann dich. Du bist in Sicherheit. Ich tue dir nichts. Ich bin auf der richtigen Seite.« Rique bog in die Helgoländer Allee ab. Er bewohnte ein großes Penthouse an der Außenalster, und dorthin wollte er sie erst einmal bringen.
»Sofern ein mit der Polizei arbeitender Detektiv für dich überhaupt zur richtigen Seite gehört«, fügte er leise hinzu.

Er vermutete, dass sie zu jenen unglücklichen Mädchen oder Frauen gehörte, die unter dem Vorwand, in Deutschland einen Job als Kellnerin zu bekommen, illegal hierher geschleust wurden. Kaum eingetroffen kam dann das böse Erwachen. Man nahm ihnen die Pässe ab, hielt sie in ihren Zimmern gefangen und zwang sie zur Prostitution. Möglicherweise, dachte er, spricht sie kein Deutsch und antwortet mir nicht, weil sie mich nicht versteht. Rique sprach sie erneut an, indem er einige jener Länder in englischer Sprache aufzählte, aus denen sie stammen könnte:
»Croatia? Serbia? Rumania? Russia? Ukraine?«
Keine Reaktion. Die Frau sah ihn noch nicht einmal an. Sie hatte sich zwar mittlerweile etwas beruhigt, aber sie stierte aus dem Beifahrerfenster und wirkte völlig paralysiert.
Rique gab es auf.

Zu Hause angekommen, parkte er in der Tiefgarage des vierstöckigen Gebäudes, half der Frau aus dem Wagen und nahm mit ihr den Aufzug in sein Penthouse. Es erstreckte sich über die gesamte vierte Etage und verfügte darüber hinaus über eine ebenso große Dachterrasse, von der aus man herrlich über die Außenalster schauen konnte.
Die junge Frau sah sich beeindruckt um. Seine Wohnung bestand im Wesentlichen nur aus einem über 200 qm großen Raum. In ihm standen lediglich ein Esstisch mit sechs Stühlen, eine Sofa-Kombination mit einer Stehlampe, ein großer Flachbild-Fernseher und ein kleines Bücherregal. Der Rest dieses Raumes wurde von Gymnastikmatten, Fitnessgeräten aller Art und einem großen Boxsack bestimmt. Sonst sah sie noch vier Zimmertüren. Dahinter befanden sich Riques Schlaf- und Arbeitszimmer, sowie Küche und Bad. Die ganze Atmosphäre war hell und freundlich, weil die großen Fenster das Penthouse nahezu verschwenderisch mit Tageslicht fluteten.
Rique schloss die Wohnungstür und bedeutete ihr mit einer Geste, sich an den Tisch zu setzen. Dann ging er in sein Schlafzimmer und sperrte die beiden erbeuteten Pistolen in seinen Safe. Zurück im Hauptraum steuerte er auf das Bad zu, öffnete dessen Tür und zeigte mit dem ausgestreckten Arm hinein.
»Falls du mal ins Bad musst...«
Die Frau sah ihn an, schüttelte aber ihren Kopf. Die erste richtige Reaktion, dachte er. Das war ein Anfang.
»Was trinken?«, machte er einen zweiten Versuch, aber diesmal sah sie ihn nur an und reagierte wieder nicht. Rique krümmte seinen rechten Zeigefinger und führte mit ihm eine imaginäre Kaffeetasse zum Mund, während er sie dabei fragend ansah.
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Okay, sie versteht also kein Deutsch. Dann eben alles mit Pantomime.

Er holte sich das Telefon, das neben dem Sofa stand, setzte sich dann ebenfalls an den Esstisch und wählte die Nummer seines Büros.
»Andree, hör zu! Ich habe am Fischmarkt eine junge Frau aus den Klauen von zwei Bulldoggen befreit. Vermutlich eine Zwangsprostituierte aus Osteuropa, der die Flucht gelungen ist. Sie versteht jedenfalls kein Deutsch und sagt nichts.«
Während Rique seinem Mitarbeiter berichtete, was sich zugetragen hatte, stand die junge Frau auf und ging zu einem der großen Fenster. Von hier aus konnte man hinunter auf die Wohnstraße sehen.
»Im Moment gehe ich noch davon aus, dass sie keinen Kontakt zur Polizei haben will, um nicht angezeigt und abgeschoben zu werden. Ich versuche mal, etwas aus ihr rauszukriegen. Stell du doch bitte eine Liste zusammen, welche Buden wir im weiteren Umkreis des Fischmarkts bzw. der Buttstraße kennen.«
Unter Buden verstanden sie illegale oder halb-legale Bordelle, meist in den Hinterzimmern von Kellerbars oder in privaten Wohnungen. Dort wurden diesen unglücklichen Frauen täglich Frischfleisch suchende Freier zugeführt.
Plötzlich klatschte die Frau in die Hände und machte ihn so auf sich aufmerksam. Dann zeigte sie aufgeregt aus jenem Fenster, an dem sie stand.
»Was ist?«, fragte Rique ganz ruhig und sah sie an. »Andree, wie lange brauchst du für die Liste?Ich komme nachher mal rüber.« Er sprach ins Telefon, doch sein Blick blieb bei ihr.

Dann legte er auf und ging zu der Frau, die ihn aufgeregt erwartete. Rique schaute aus dem Fenster hinunter zur Straße, wohin sie seinen Blick mit dem Zeigefinger lenkte.
Zwei lange, silberne Mercedes Limousinen hatten auf der gegenüber liegenden Straßenseite halb auf dem Gehweg geparkt. Acht Männer in schwarzen Anzügen waren ausgestiegen. Vier besetzten strategische Positionen in der näheren Umgebung. Die anderen vier marschierten auf den Hauseingang zu. Rique hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie über die Möglichkeiten verfügten, sich Zutritt zu verschaffen.
»Woher zum Teufel...?«, fluchte er und ergriff ihren Arm. Dabei verzog sie das Gesicht. Er ließ sie wieder los, und sie kratzte sich an jener Stelle, die er ergriffen hatte. Rique nahm ihren Arm erneut und betrachtete die Stelle eindringlich. Entsetzt entdeckte er eine Einstichstelle, die noch nicht besonders alt war. Daneben konnte er unter der Haut einen Fremdkörper fühlen, etwas kleiner als eine Erbse.
Ein GPS-Sender, verdammt!

Nun erkannte auch die Frau, warum diese Stelle an ihrem Arm juckte und ein wenig schmerzte. Sie sah Rique ebenso neugierig wie aufmerksam in die Augen, abwartend, was er nun tun würde. Der ergriff ihre Hand und steuerte mit ihr auf die Wendeltreppe zu, die auf die Dachterrasse führte.
Sie liefen an ihr östliches Ende. Dort kletterte Rique über die hüfthohe Plexiglas-Abtrennung. Dahinter ging es auf das etwa zwei Meter darunter liegende Dach des Nachbarhauses. Rique sprang und landete wie eine Raubkatze sicher federnd auf seinen Füßen. Dann sah er hoch und bedeutete der Frau mit einer Geste, dass sie es ihm gleichtun solle. Er würde sie auffangen. Sie zögerte kurz, aber dann sprang auch sie. Beim Auffangen musste er einen Ausfallschritt nach hinten machen, um sich zu stabilisieren, dann hielt er sie fest und sicher. Ihr Haar duftete nach Apfelshampoo. Er drehte sich um, nahm sie wieder an die Hand und überquerte auch dieses Dach. An dessen Ende sprang er erneut auf das nächst tiefere. Sie folgte ihm schnell, und wieder fing er sie auf. Der letzte Sprung ging auf das Dach einer Garage und von dort auf ein kleines Rasenstück. Die Garage befand sich in einer Seitenstraße, die von der Frontseite seines Hauses nicht einzusehen war.

Rique zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete mit einer daran befindlichen Fernbedienung die Garage. Sie gehörte zu dem letzten flachen Gebäude, von dem sie gesprungen waren, und in diesem befand sich sein Büro. Rique und die Frau setzten sich in den VW Golf, der in der Garage stand. Dann fuhr er damit in nördlicher Richtung davon.
Er drückte eine Kurzwahl auf dem Touchscreen in der Mittelkonsole, und kurz darauf meldete sich Andree über die Freisprechanlage. Ihm erklärte er schnell die entstandene Situation und teilte ihm mittels einer codierten Formulierung mit, wohin er zu fahren gedenke. Dann legte er wieder auf.
Vor seinem Haus betrachtete derweil in einer der beiden silbernen Limousinen ein Mann in einem schwarzen Anzug einen kleinen Monitor, drückte die Sprechtaste am Lenkrad und sagte mit ruhiger Stimme: »Sie fliehen, und zwar ziemlich schnell in nördlicher Richtung, vermutlich motorisiert. Aktion abbrechen. Zurückkommen!«

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