Lovely Skye - Ein Sommer in Balnodren

Von Annika Dick

Kapitel 1 - Ankunft auf Skye

Für einen ausgemachten Stadtmenschen wie Innes Graeme war der Blick aus den Busfenstern zu beiden Seiten gleichermaßen trostlos. Rechts das weite blaue Meer, links die weiten grünen Wiesen. Eines stand für Innes fest: Die Isle of Skye und sie würden in diesem Leben keine Freunde werden.
Sie fuhr sich mit der Hand durch das lange rote Haar und warf einen Blick auf ihre Uhr. Vor über zehn Stunden war sie in Edinburgh aufgebrochen. Als sie in Portree, der Hauptstadt der Insel, in den Bus Richtung Norden umgestiegen war, hatte sie einen gut gefüllten Fernreisebus gegen einen fast leeren Bus getauscht und es schien, dass die Zahl der Menschen auch außerhalb ihres Transportmittels stetig abnahm. Die Straße war nicht einmal mehr breit genug, um ein zweites Fahrzeug passieren zu lassen. Innes erinnerte sich selbst daran, dass zu Hause nichts auf sie wartete und sie nach Skye gekommen war, um dem trostlosen Anblick der sich stapelnden Absagen auf ihrem Schreibtisch zu entfliehen. Das war eine andere Art von Eintönigkeit.

Seit zwei Monaten saß sie arbeitslos zu Hause und suchte einen neuen Job. Zwar hatte die Übernahme des Sportartikelherstellers, für den sie in der Marketingabteilung tätig gewesen war, für eine stattliche Abfindung mit der Kündigung gesorgt, aber sie war einfach nicht der Typ, der einen unfreiwilligen Urlaub genießen konnte. Sie brauchte die Sicherheit, beim Einschlafen zu wissen, dass am nächsten Morgen ein Job auf sie wartete.
Innes spürte, wie sich beim bloßen Gedanken an ihre unsichere Situation ihr Magen zusammenzog. Sie presste die Hände auf ihren Bauch und atmete erleichtert auf, als sie an einem kleinen Schild vorbeifuhren, das ihre Ankunft in Balnodren signalisierte. Hatte Innes Portree schon für eine kleine Stadt gehalten, wurden ihr nun endgültig die Augen geöffnet. Der Bus hielt keine drei Straßen vom Ortseingang entfernt, und das schien bereits die Stadtmitte zu sein. Dennoch war Innes mehr als froh darüber, endlich aus dem Bus aussteigen zu können und drei Monate Zeit zu haben, ehe sie wieder den halben Tag eingepfercht in einem solchen würde verbringen müssen.

»Innes, willkommen in Balnodren!«
Eine dunkelblonde Frau kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu, sobald sie ausgestiegen war. Innes lächelte sie müde an und breitete ebenfalls die Arme aus.
»Fen, schön dich zu sehen«, grüßte sie ihre Freundin und ließ sich von ihr in die Arme schließen.
»War die Fahrt sehr schlimm?«, fragte Fenella und strich sich das dunkelblonde Haar hinter die Ohren. Innes schüttelte den Kopf und hob ihre Reisetasche auf, die sie neben sich abgestellt hatte.
»Es ging«, antwortete sie und ließ zu, dass Fenella einen Griff der Reisetasche nahm. »Wir müssen noch ein wenig laufen. Aber du siehst die Pension schon.« Fenella deutete mit ihrer freien Hand auf ein großes Haus, welches auf einer Anhöhe stand.
Wilkinson Manor.
Innes erinnerte sich daran, dass Fens Eltern das alte Familienanwesen bereits vor Fens Geburt zu einer Pension umgebaut hatten.
Gemeinsam gingen die beiden Freundinnen die Straßen Balnodrens entlang. Fenella fragte Innes nach ihrer Anreise aus, und Innes bemühte sich, nicht allzu verdrossen über die lange Busfahrt zu klingen. Oder über die Einsamkeit, die die Insel bereits jetzt auf sie ausstrahlte.

»Es wird dir hier gefallen«, versprach Fen.
Als sie sich Wilkinson Manor näherten, erkannte Innes, dass das Haus von Weitem einen deutlich besseren Eindruck gemacht hatte. Aus der Nähe sah sie, dass der Putz an einigen Stellen abbröckelte und das Haus dringend einen neuen Anstrich benötigte.
»Da sind wir«, erklärte Fenella und öffnete die Haustür. Ehe sie eintrat, warf Innes noch einen Blick zurück. Wilkinson Manor war das höchstgelegene Haus in Balnodren. Von hier aus konnte sie bis hinunter in die Bucht schauen, in der einige Fischerboote lagen. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, hier drei Monate zu verbringen, fragte sie sich, während sie Fenella ins Haus folgte.

Die Eingangshalle ließ noch erahnen, welcher Wohlstand hier einmal geherrscht hatte. Die dunklen Holzdielen und die ebenso dunkle Vertäfelung an den Wänden setzten sich in der großen Treppe fort, die in die oberen Stockwerke führte. Selbst der Empfangstresen war aus dem gleichen Holz. Altmodische Wandleuchter und ein Kronleuchter erhellten den Raum. Deren Metallkomponenten hatten dringend eine Politur nötig, doch nach einer solchen könnte Innes sich gut vorstellen, wie die Lords und Ladys von Downtown Abbey oder ähnlichen TV-Serien sich hier aufhielten.
Am Empfang wartete ein Mädchen mit einem dunklen Pferdeschwanz, das sich die Zeit Kaugummi kauend mit einer Zeitschrift vertrieb.
»Innes, diese überaus zuvorkommende junge Dame ist meine Cousine Amy. Sie hilft mir in den Semesterferien hier aus.«
Amy ließ eine Kaugummiblase platzen und sah kurz von ihrem Magazin auf.
»Hi«, grüßte sie Innes und senkte sofort den Blick wieder, um weiterzulesen. Fenella seufzte und rollte mit den Augen. Sie umrundete den Empfang und nahm selbst einen Schlüssel von der Wand hinter Amy ab. Innes bemerkte, dass kein einziger fehlte. Sie konnte doch unmöglich der einzige Gast hier sein.
»Komm, ich zeig dir erst hier unten alles.«

Innes folgte Fenella in das Esszimmer, einen geräumigen Aufenthaltsraum, durch den man hinaus in den Garten gelangte. Alles, was sie bisher gesehen hatte, wirkte wie aus einer anderen Zeit. Wäre die kaugummikauende Amy nicht gewesen, Innes hätte fast geglaubt, sie habe eine Zeitreise hinter sich gebracht.
Selbst der Garten wirkte wie ein Überbleibsel aus einer lange zurückliegenden Epoche. Der akkurat geschnittene Rasen war von hochgewachsenen Rosensträuchern und Hecken umgeben, die die Gäste vor neugierigen Blicken von außen schützten. Fenella führte sie an einem Teich vorbei, in dem ein Entenpaar seine Bahnen zog.
Postkartenidylle, schoss es Innes durch den Kopf. Von diesem Platz aus, zwischen zwei Apfelbäumen hindurch, den Teich im Vordergrund und die Pension mit den Efeuranken an den Außenmauern, hatte man den perfekten Blick auf ihre Herberge für die nächsten Monate. Das Licht der langsam sinkenden Sonne tat sein Übriges, um Wilkinson Manor einen verklärt romantischen Anstrich zu verleihen. Es war das ideale Bild, um für die Pension zu werben. Innes schüttelte den Kopf. Sie konnte tatsächlich nicht aus ihrer Haut.

»Innes?«
Sie drehte sich zu Fenella um, die an der Tür eines kleinen Hauses stand, von dem Innes zunächst nicht gedacht hatte, dass es noch zum Anwesen des Manors gehörte. Vor dem Haus wuchsen Wildblumen und ein mit Steinen gepflasterter schmaler Weg führte zur Eingangstür.
»Mein Zuhause«, erklärte Fenella und breitete die Arme aus.
»Du selbst wohnst nicht in der Pension?«, fragte Innes überrascht. Fenella schüttelte den Kopf.
»Nein, Wilkinson Manor ist komplett für die Gäste umgebaut worden. Meine Eltern haben damals den Stall abgerissen und an seiner Stelle dieses Haus hier errichtet. Jetzt komm rein, Lucy freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.«
Innes folgte ihr und hörte schon beim Betreten des Hauses ein helles Kinderlachen.
»Lucy?«, rief Fenella nach ihrer Tochter und schloss die Tür hinter Innes.
»Wir sind hier, Mum«, schallte die Antwort aus einem Nebenzimmer.
»Wir?«, fragte Fenella noch, als sie mit Innes das Wohnzimmer betrat. »Oh, hallo Jack.«

Innes blieb in der Tür stehen. Das Wohnzimmer schien ihr bereits jetzt überfüllt mit Fen und ihrer Tochter Lucy, die auf dem Boden saß und ein Tier im Schoß hielt. Innes wusste nicht so recht, was es sein sollte, weil es nur aus Haaren zu bestehen schien. Ein Mann, dieser Jack, kniete vor diesem Fellbündel auf dem Boden.
»Hey Fen«, grüßte er über seine Schulter, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Lucy hat mich angerufen, weil Oscar sich mit einer Biene angelegt hat.«
»Geht es ihm gut?«, fragte Fenella besorgt und kniete sich ebenfalls neben den Hund auf den Boden.
»Ja, keine Sorge, sein Bein ist etwas geschwollen, und er wird die nächsten Tage wohl ruhiger sein, aber er wird wieder.«
»Wir sind doch stark!« Lucy schenkte ihrer Mutter ein breites Grinsen, bei dem Innes direkt lächeln musste. Fenella hatte ihr viel über ihre Tochter erzählt, vor allem darüber, mit welcher Stärke und Gelassenheit die Siebenjährige mit ihrer schweren Asthmakrankheit umging. Diese erforderte nicht nur ständige Inhalationen, sondern auch stetige Einnahme anderer Medikamente. Während sie Lucy nun zum ersten Mal sah, dachte sie, dass das Mädchen tatsächlich nicht so aussah, als wolle es sich von irgendeiner Krankheit die Lust am Leben nehmen lassen.

»So, das war es«, erklärte Jack und stand zusammen mit Fenella wieder auf. »Ich komme übermorgen noch einmal vorbei, um nach ihm zu sehen.«
»Danke, Jack.« Als die beiden sich zur Tür wandten und Jack bei Innes‘ Anblick stutzte, fiel Fenella ein, dass sie ihre Freundin ganz vergessen hatte.
»Entschuldige, Innes«, bat sie und nahm Lucy das Fellknäuel ab, damit auch ihre Tochter sich erheben konnte.
»Darf ich vorstellen? Meine Tochter Lucy und unser Oscar.«
»Der beste Hund auf der ganzen Welt«, ergänzte Lucy und kam zielstrebig auf Innes zu.
»Ja, das ist er«, bestätigte Fenella und schmunzelte.
»Und das ist Jack, der wohl beste Tierarzt der ganzen Welt.«
»Hi«, grüßte Innes in die Runde und winkte kurz. Am liebsten wäre sie sofort zurück in die Pension gegangen. Sie wollte auf keinen Fall stören.
»So, Sie sind also die berühmte Großstadtfreundin, die uns den Sommer über in Balnodren besucht?«
Jack streckte Innes seine Hand entgegen.
»Äh …« Innes sah fragend zwischen Fenella und Jack hin und her, ehe sie seine Hand ergriff. Sein Händedruck war fest und angenehm, und Innes ertappte sich dabei, wie sie ihre Hand ein wenig länger als unbedingt nötig in der seinen liegen ließ.
»Er zieht dich nur auf«, versicherte Fen, doch Innes sah, wie eine leichte Röte ihre Wangen überzog.
»Natürlich«, bestätigte Jack, und Innes sah ein Funkeln in seinen graublauen Augen, während seine Mundwinkel verräterisch zuckten. Diese Versicherung hätte sie dazu bringen sollen, sich zu entspannen. Stattdessen breitete sich ein nervöses Flattern in ihrem Magen aus.
»Also, ich bin dann weg«, wandte Jack sich wieder an Fenella und fuhr Lucy sanft über den Kopf, als er an ihr und Innes vorbeiging.
»Sie redet seit Wochen von nichts anderem als von Ihrem Besuch, und es würde mich wundern, wenn es eine Menschenseele in Balnodren gäbe, die nicht auf Anhieb wüsste, wer Sie sind«, raunte er Innes noch zu, ehe er das Haus verließ.

»Er übertreibt!«, beharrte Fen, der seine Worte nicht entgangen waren. Innes räusperte sich und suchte nach ihrer Stimme, die ihr abhanden gekommen zu sein schien.
»Ich wette, du hast niemandem so viel von mir erzählt, wie du mir von Lucy erzählt hast.«
Mit einem Lächeln wandte sie sich dem Mädchen zu und hielt ihr die Hand entgegen.
»Es freut mich, dich endlich kennenzulernen.«
Lucy strahlte sie an und schüttelte ihre Hand.
»Mir hat sie ganz viel von dir erzählt.«
Lucy hielt grinsend ihre Hand fest, während sie sie zu Fenella und dem Hund führte, den diese noch immer im Arm hielt.
»Das ist Oscar«, stellte Lucy ihren Hund noch einmal vor. Tatsächlich konnte Innes aus der Nähe nun auch den Hund unter dem ganzen Fell erkennen.
Zumindest sah sie seine Schnauze und die rosa Zunge, die hechelnd aus dem kleinen Maul heraushing. Seine Ohren, außer der Schnauze das einzig Schwarze an dem ansonsten weißen Fell, standen aufrecht. Seine Augen konnte sie nicht ausmachen. Sie fragte sich, ob er sich wirklich mit einer Biene angelegt, oder ob er diese einfach nicht gesehen hatte. Innes hielt dem Hund ihre Hand entgegen und ließ ihn an sich schnuppern. Seine kleinen Beinchen strampelten wild in der Luft, bis Fenella ihn auf den Boden ließ. Dann humpelte Oscar zu einem Stoffkörbchen, das vor dem bodentiefen Fenster in Richtung Garten stand.

»Ich hätte dich ja hier bei uns einquartiert, aber wir haben nur unsere beiden Schlafzimmer«, entschuldigte sich Fenella, doch Innes winkte ab: »Solange ich deinen Gästen kein Zimmer wegnehme...«
Ein Schatten legte sich über Fens Gesicht, doch so schnell dieser gekommen war, so schnell war er auch schon wieder verschwunden.
»Ich bereite dann schon mal das Abendessen vor. Du musst am Verhungern sein, Innes. Kommt ihr mit in die Küche? Dann reden wir, und ihr beide könnt euch kennenlernen.«
Zu dritt gingen sie in die Küche, und Innes ließ es sich nicht nehmen, Fenella bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.
»Von diesem Jack hast du mir aber nichts erzählt«, raunte sie Fenella zu, während Lucy den Tisch deckte. Fenella sah ihre Freundin erstaunt an.
»Ich wusste nicht, dass ich dir über die Einwohner der Stadt so viel erzählen sollte? Ich dachte mir, du lernst sie ohnehin kennen, wenn du hier bist.«
»Wie? Er ist nur irgendein Einwohner der Stadt?«
Fen verstand nicht recht, worauf Innes hinauswollte.
»Na ja, er ist der Tierarzt hier.«
»Das ist alles?«
»Was soll er denn noch sein?«
»Dein Freund?«, hakte Innes schließlich nach.
Fenella sah sie entgeistert an.
»Jack?«
»Ja, wieso nicht? Ich meine, er scheint nett zu sein, scheint Lucy zu mögen, Tiere sowieso. Und er sieht gut aus…« Innes konnte nicht verhindern, dass ihr das Bild seiner funkelnden graublauen Augen oder dieses neckische Grinsen wieder in den Sinn kamen. Er sah wirklich gut aus, dachte sie. Dunkles, kurzes Haar. Dreitagebart. Groß, mit breiten Schultern, ohne die Muskeln eines regelmäßigen Fitnessstudiobesuchers mit sich herumzuschleppen. Ein Naturbursche, ohne Frage. Nichts, was man in Edinburgh oft zu Gesicht bekam. Niemand, der in die Großstadt gepasst hätte. Aber hier auf Skye und auch zu Fenella hätte er doch wirklich gut gepasst.
»Es ist Jack!«, erwiderte Fenella und schüttelte lachend den Kopf. »Nein, glaub mir, da ist rein gar nichts und wird auch nie etwas sein.« Sie warf Innes einen kurzen Seitenblick zu. »Also, wenn du an ihm interessiert bist … seine Nummer liegt beim Telefon.«
»Rede keinen Unsinn«, unterbrach Innes sie. »Ich bin nicht hier, um einen Mann kennenzulernen. Ich habe schon genug Probleme damit, einen Job zu finden, das reicht mir im Moment ganz und gar.«
»Ist das Essen fertig?«, fragte Lucy und unterbrach damit jegliche weitere Diskussion über Männer im Allgemeinen und einen gutaussehenden Tierarzt im Besonderen.

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