Der Weichensteller

Leseprobe:

Sebastian Gruhn öffnete die Tür seines Kühlschrankes und entnahm ihm eine Flasche Bier. In wenigen Minuten sollte die Übertragung des Pokalhalbfinales beginnen, und Gruhn freute sich schon den ganzen Tag auf dieses Spiel. Er hatte die Fußstütze seines Fernsehsessels bereits hochgeklappt und außerdem auf dem Sessel eine Wolldecke zum Zudecken bereitgelegt. Noch lief die Tagesschau, und die markante Stimme des Sprechers war auch hier in der Küche noch zu hören. Soweit er einzelne Worte verstehen konnte, war von einer Kindesentführung die Rede. Gruhn stellte die Flasche auf die Arbeitsplatte und öffnete sie wie gewöhnlich mit dem Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Jetzt fehlte nur noch die unverzichtbare Dose mit Erdnüssen. Als er auch diese öffnen wollte, vernahm er aus dem Fernseher laut und deutlich die Stimme seines besten Freundes Martin. Er stellte die halb geöffnete Erdnussdose wieder ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Tatsächlich! Martins breites Gesicht füllte fast den ganzen Bildschirm. Lediglich die bunten Mikrofone vor seinem Mund waren am unteren Bildrand noch zu sehen. Dann fuhr der Kameramann den Ausschnitt etwas zurück, so dass auch Martins Oberkörper im Bild erschien. Sebastian Gruhn musste lächeln. Sie hatten seinem Freund für die abzugebende Presseerklärung eine Polizeiuniform angelegt, mit zwei goldenen Sternen auf den Schulterklappen. Und das war falsch, so gut war auch Gruhn über polizeiliche Rangabzeichen informiert. Einerseits war Martin Osterkorn Kriminalrat und besaß überhaupt keine Uniform mehr und andererseits hätte ein Kriminalrat, wenn er denn eine Uniform besäße, nur einen goldenen Stern auf den Schulterklappen. Die Uniform, die Martin vor den Kameras trug, war die eines Polizeioberrates. Offenbar waren sie der Meinung gewesen, Martin solle vor den Kameras eine Uniform tragen, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen und eine Ratsuniform schien wohl so schnell nicht zur Hand gewesen zu sein. Er stand vor dem Polizeipräsidium, und es war noch hell. Die Bilder waren vermutlich am heutigen Nachmittag aufgezeichnet worden. Gruhn hörte zu, was sein Freund vor laufenden Kameras sagte.

„... kam das Mädchen am Sonntag Nachmittag von einer Geburtstagsfeier nicht nach Hause. Frau Bucher wird in ihrem Anwesen polizeilich und psychologisch betreut und möchte derzeit aus verständlichen Gründen keine eigenen Erklärungen abgeben.“

Unter Martins Gesicht wurde sein Name eingeblendet und die Information, dass er der Leiter der eingerichteten Sonderkommission „Jessica“ ist. In der oberen linken Ecke des Bildes blendeten sie das Portrait der Popsängerin Stefanie Bucher ein. Jetzt hatte Sebastian Gruhn begriffen. Bei dem entführten Kind handelte es sich offensichtlich um die Tochter der berühmten Sängerin, die hier in einer noblen Vorortvilla wohnte.

„Haben die Entführer sich schon gemeldet?“, fragte eine weibliche Reporterstimme.

„Ja, bei der Polizei ging ein Schreiben der Entführer ein. Über den Inhalt möchte ich derzeit aus ermittlungstaktischen Gründen noch nichts sagen. Nur soviel, dass noch keine konkrete Forderung aus dem Schreiben hervorgeht. Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Entführer sich direkt an die Polizei wendeten. Üblicherweise werden die Angehörigen kontaktiert mit der ausdrücklichen Bitte, die Polizei nicht einzuschalten. In diesem Fall ist es überraschenderweise anders herum. Frau Bucher wurde nicht selbst kontaktiert, sondern direkt und ausschließlich die Polizei. Das ist, wie gesagt, ungewöhnlich.“

Sebastian Gruhn ging zurück in die Küche, um seine Erdnüsse und die offene Flasche Bier zu holen. Dann machte er es sich in seinem Fernsehsessel gemütlich, schlug die Wolldecke um seinen Körper und ließ in Vorfreude auf das nun kommende Fußballspiel den abschließenden Wetterbericht geduldig über sich ergehen.

Das Spiel war eine einseitige Angelegenheit. Der Favorit führte kurz vor Schluss deutlich mit 4:1. Es waren nur noch wenige Minuten zu spielen, als sein Telefon klingelte.

„Gruhn?“
„Ich bin es. Martin.“
„Hi! Ich habe Dich in der Tagesschau gesehen.“
„Ja, dann weißt Du ja Bescheid. Das gibt wieder Überstunden ohne Ende, und ich weiß nicht, ob ich es Freitag zu unserem Backgammonabend schaffe.“
„Habe ich mir schon gedacht. Passiert halt.“
„Aber wie wäre es mit jetzt? Ich mache jetzt Feierabend, mein stellvertretender Kommissionsleiter macht die Nacht. Ich fahre gleich nach Hause, und nach diesem Tag könnte ich noch ein wenig ablenkende Unterhaltung vertragen, bevor ich ins Bett gehe. Was hältst Du davon?“
„Martin, ich kann nicht mehr fahren. Ich habe das Spiel gesehen und drei Flaschen Bier getrunken.“
„Ich hole Dich auf dem Heimweg ab und bringe Dich auch später wieder zurück. Komm, lass Dich nicht anbetteln.“
„Okay, aber eines sage ich Dir: Die Einsätze bleiben schön niedrig. Ich verdiene nicht soviel wie Halil oder Achmed.“

Gruhn und Osterkorn kannten sich seit dem Abitur, und sie teilten in all den Jahren mit dem Backgammonspiel ein gemeinsames Hobby. Während Martin Osterkorn der Polizei beitrat, studierte Sebastian Gruhn Geschichte. Er arbeitete nun als wissenschaftlicher Mitarbeiter unter seinem älteren Bruder. Prof. Dr. Uwe Gruhn hielt den Lehrstuhl an der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der hiesigen Universität. Martin Osterkorn war im Februar 44 Jahre alt geworden, Sebastian würde es im September werden. Er hoffte, dass sein Freund nicht wieder bis tief in die Nacht würde spielen wollen. Es war Mittwoch, und er musste am nächsten Morgen wieder in die Universität.

Sein Freund hatte ihn, wie angekündigt, abgeholt. Sie fuhren schweigend durch die Stadt und bogen zuguterletzt in die Verdistraße ein, in der Martin wohnte. Seit ihn seine Frau vor drei Jahren verlassen hatte, lebte er allein in dem frei stehenden, ehemals gemeinsamen Haus. Es war schon von Weitem zu erkennen an dem extravagant gestalteten Garagentor. Die Garage war, wie bei allen Häusern dieser Straßenseite, direkt an das Haus gebaut und verfügte über einen internen Durchgang ins Hausinnere. Das Tor hatte Martin vor einigen Jahren von einem professionellen Graffitikünstler gestalten lassen. Es handelte sich um eine fotorealistische und perspektivische Grafik. Sie zeigte das Innere einer Garage mit Regalen an den Wänden, gestapelten Reifen, und im Zentrum stand ein feuerroter flacher Ferrari F14. Martin hatte tatsächlich einmal einen älteren, gebrauchten Ferrari als Zweitwagen für sonnige Sommertage besessen. Keinen F14 natürlich, sondern ein vergleichsweise preiswertes Alltagsmodell. Sebastian wusste nicht mehr genau, was für ein Modell es war, aber es war schon etwas älter, und Martin konnte sich mit diesem Modell, im Gegensatz zu einem sündhaft teuren F14, seinen Traum von einem Ferrari durchaus erfüllen. Nach der Scheidung jedoch, belastet von der nunmehr alleinigen Verantwortung für die Haushypothek und den Unterhaltszahlungen an Monika, hatte er sich vernünftigerweise dafür entschieden, sich von seinem überflüssigen Luxustraum zu trennen. Jetzt kamen sie in einem einfachen Seat Leon hier an. Martin parkte den Seat am Straßenrand. Die beiden Männer stiegen aus.
„Warum fährst Du nicht in die Garage?“
„Die steht voll mit Gerümpel. Ich habe am Wochenende endlich mal den ganzen Keller ausgemistet und warte auf den Sperrmüll. Komm!“

Die Freunde betraten das Haus und begaben sich ins Wohnzimmer. Vor der großen Fensterfront zum Garten stand die bequeme Eckcouch, auf der Sebastian schon oft nach durchzechter Nacht geschlafen hatte. Sie aber setzten sich an den großen Esstisch, der neben der Wohnzimmertür an der Wand stand. Martin öffnete den Wohnzimmerschrank und holte eine Flasche Wein und seinen Backgammonkoffer heraus.
„Denk dran, Du musst mich noch nach Hause fahren.“, warf Sebastian in den Raum, als sich Martin anschickte, die Flasche zu öffnen.
„Sollte ich ein Glas zu viel trinken, zahle ich Dir ein Taxi, oder Du schläfst hier und ich bringe Dich morgen vor dem Dienst in die Uni.“ entgegnete sein Gastgeber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Dann legte er den Backgammonkoffer auf den Tisch und die beiden begannen damit, die Ausgangsstellung aufzubauen. Es war ein teurer Kingsize-Koffer. Handgearbeitet aus Leder, die Spielfelder fein säuberlich in die Spielfläche eingelassen, so dass es keine Kanten gab, an denen die Steine bei billigeren Fabrikaten oft hängen blieben. Gespielt wurde mit besonders großen Steinen, die wunderbar schwer in der Hand lagen.

Als sie fertig aufgebaut hatten, legte Sebastian sein Würfelpaar zunächst noch zur Seite. Er dachte über etwas nach und sah seinem Freund dann in die Augen.
„Sie haben noch nicht gesagt, was sie wollen? Die Entführer, meine ich.“
Martin füllte zwei Gläser Wein.
„Doch, haben sie. Aber das konnte ich im Fernsehen noch nicht sagen. Und ich fürchte, das wird eine ernste Geschichte.“
„Was meinst Du mit „ernste Geschichte“? Ist nicht jede Entführung ernst?“
„Nicht jede Entführung ist gleich ernst. Ich meine, nicht jeder Entführer ist gleich gefährlich. Hier allerdings haben wir es mit Profis zu tun, die wir absolut ernst nehmen müssen. Sie wollen kein Geld, denn das ist registriert. Sie wollen Goldbarren im Wert von einer Million Euro. Das sind 40 Kilogramm Gold, verstehst Du? Und Gold kannst Du nicht markieren, weil man es einschmelzen und verarbeiten kann. Das Problem ist, dass Du nicht mal eben so an Goldbarren kommst. Für die Sängerin sind eine Million Euro sicher nicht das Problem, aber Du kannst nicht mit einer Million in die Bank gehen und mal eben so 40 Kilogramm Goldbarren kaufen. Es wird schwierig, das zu besorgen. Und die Entführer scheinen nicht die meiste Geduld zu haben.“
„Wieso?“
Der Kriminalrat lehnte sich erschöpft in seinem Stuhl zurück und legte seine Würfel, die er die ganze Zeit in seiner Handfläche hat gegeneinander rollen lassen, nun auch zur Seite.
„Sie haben den Erstkontakt mit einem großen Umschlag begonnen. Darin war das Schreiben, aber auch Jessicas Haarschopf in voller Länge. Das Labor hat bestätigt, dass es von ihr ist. Sie schreiben, wenn wir nicht pünktlich reagieren, befände sich im nächsten Päckchen etwas, was nicht nachwachsen wird.“
„Mein Gott. Wie alt ist die Kleine?“
„Elf.“
Sebastian nahm einen Schluck Wein.
„Was für eine Todesangst muss sie jetzt haben ...“
Martin schaute auf die Tischplatte und nickte betroffen.
„Wenn sie ihr bis jetzt noch nichts angetan haben, wird sie zumindest bis zum Wochenende sicher sein. Wir sollen unsere Antwort in einer Kleinanzeige am Samstag unterbringen. Bis dahin sollte ihr noch nichts passieren.“
Martin nippte nun auch an seinem Glas.
„Wenn noch nichts passiert ist.“, fügte er schnell hinzu.
„Was wisst ihr über die Entführung an sich?“
„So gut wie nichts. Jessica war am Sonntag auf der Geburtstagsfeier einer Freundin in der Goethestraße. Die hat sie um 18.00 Uhr verlassen, um nach Hause zu gehen. Es sind nur zehn, maximal fünfzehn Minuten Fußweg, aber sie kam nicht zu Hause an. Ihre Mutter hat sie am selben Abend noch vermisst gemeldet. Wir haben Sonntag und Montag alle Menschen befragt, die auf der Strecke wohnen. Nichts. Keiner hat etwas gesehen oder gehört. Wir haben alle Bekannten und Verwandten abgeklappert. Nichts. Freunde von ihr, alles. Wir sind die umliegenden Wälder und Grünanlagen mit einem Hubschrauber mit Wärmebildkamera abgeflogen. Nichts. Allerdings haben wir ihr Handy geortet. Es lag in einem Gulli Heinrich-Heine-Straße, Ecke Studerweg. Und Dienstag kam der Umschlag im Präsidium an.“

Sebastian rieb sich die Schläfen und danach die inzwischen müden Augen. Dann stand er langsam auf und ging ans andere Ende des Wohnzimmers. Er stellte sich vor die Terrassentür und schaute in die schwarze Nacht hinaus. Er sah dabei in die Augen seines eigenen Spiegelbildes und überlegte.

„Was ist los?“, unterbrach Martin seine Gedanken.

Sebastian drehte sich um, presste zunächst seine Lippen aufeinander und schien mit sich zu kämpfen. Dann ging er zurück zum Spieltisch und setzte sich wieder. Der Kriminalbeamte verfolgte dabei jeden seiner Schritte und musterte seinen Blick. Dann sprach ihn Sebastian an, und seine Worte waren sehr leise, fast heiser, so als ob es ihn Kraft koste, sie loszulassen.

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